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5 Fragen — 5 Antworten: Mit Dr. Rainer Bölling

16. Januar 2017

Dr. Rainer Bölling (1944 in Herford geboren) ist ein deutscher Bildungsforscher, der sich besonders mit dem Thema Akademisierungswahn auseinander setzt. wissensschule tauschte sich mit ihm über das von der OECD seit Jahren propagierte Akademisierungsdogma, die Qualität des Abiturs sowie die Auswirkungen des Akademisierungswahns auf das duale Berufsbildungssystems aus.

Dr Rainer Boelling Interview

Die Frage, was man nach dem Abitur vorhat, nervt nicht nur die Abschlussklassen. Mit der Antwort „Irgendetwas mit ... “ zählen einige Schüler schon zu den Entschlossenen. Direkt ins Studium, eine Ausbildung machen oder im Ausland erste Erfahrungen sammeln? Den eigenen Interessen folgen oder einen sicheren Weg gehen? Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Als ich 1964 Abitur machte, war Berufsberatung am Gymnasium noch ein Fremdwort. Als einziges Kind einer Kriegerwitwe im Haus meiner Großeltern ohne akademischen Hintergrund aufgewachsen, erhielt ich auch von dieser Seite wenig Einblick in die Berufswelt. Dass ich als guter Schüler studieren würde, galt aber als selbstverständlich, und so habe ich wie mein Vater ein Studium für das höhere Lehramt aufgenommen. Das entsprach auch dem damaligen Zeitgeist, hatte doch Georg Picht gerade das Horrorbild einer deutschen Bildungskatastrophe an die Wand gemalt und für die nächsten zehn Jahre einen Bedarf von 300.000 Lehrern errechnet.

Durch den Tweet der damals 17-jährigen Schülerin Naina, in dem der Wunsch nach "mehr lebensnahem Unterricht" geäußert wurde und Themen wie z.B. Steuern, Miete und Versicherungen mit behandelt werden sollten, wird die Diskussion um die Wissensvermittlung an unseren Schulen wieder neu befeuert. Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Der Wunsch nach einem stärkeren Bezug der Schule zur Lebenswelt ist nachvollziehbar und zum Teil auch berechtigt. Insbesondere gibt es wohl ein Defizit an wirtschaftlichen Grundkenntnissen, um dessen Behebung sich die Schule kümmern sollte. Das muss nicht unbedingt in einem eigenen Fach geschehen, sondern ist auch in Kombination mit Politik und Soziologie möglich. Man sollte von der Schule aber nicht erwarten, dass sie Handlungsrezepte für alle möglichen Alltagssituationen vermittelt. Hier sind weiterhin auch Familie, Freundeskreis und Eigeninitiative gefragt, vor allem aber die in der Schule zu erwerbende Fähigkeit, sich kompetent zu informieren und auch in komplexen Situationen rationale Handlungsoptionen zu entwickeln.

Viele Eltern träumen nach dem Abitur vom Bachelor ihrer Kinder, während die vielleicht doch lieber mit ihren Händen arbeiten würden. Berufs- und Studienwahl wird neben der Schule maßgeblich vom Elternhaus mitbestimmt. Eilen Eltern hier nicht falschen Idealen hinterher, wenn Sie denken, nur mit einem Studium könne man es heute zu etwas bringen?

Die Vorstellung, dass man es nur mit Abitur und Studium zu etwas bringen könne, beruht vor allem  auf dem von der OECD seit Jahren propagierten Akademisierungsdogma, demzufolge ein höheres, in Schuljahren gemessenes Bildungsniveau auch ein höheres Einkommen von Individuen und Nationen mit sich bringt. Doch der internationale Vergleich zeigt, dass Länder mit hohen Abiturienten- und Akademikerquoten wie die südeuropäischen Länder ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen und höhere Jugendarbeitslosigkeit aufweisen als Deutschland. Dort sind auch junge Menschen mit Hochschulabschluss in höherem Maße von Arbeitslosigkeit und unterwertiger Beschäftigung betroffen als bei uns, wo die massenhafte Akademisierung erst vor kurzem eingesetzt hat. Erst seit zwei bis drei Jahren erkennt die OECD die Vorzüge des dualen Berufsbildungssystems, das in den deutschsprachigen Ländern gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt und solide Verdienstmöglichkeiten bietet.

Unternehmen wie auch Hochschulen beklagen schon seit Jahren die mangelnde Studier- bzw. Ausbildungsreife frisch gebackener Abiturienten. Dies belegen auch eindrucksvoll die hohen Abbrecherquoten sowohl im Studium als auch in der Ausbildung. Was läuft falsch in unserem Land?

Seit einigen Jahren gelten auch in der deutschen Bildungspolitik hohe Abschlussquoten auf den verschiedenen Qualifikationsebenen als Maßstab von Qualität und darüber hinaus als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit. Diese Quoten kommen aber großenteils durch eine Absenkung der Anforderungen zustande, die von manchen Kultusbehörden durch teilweise subtile Maßnahmen gesteuert und zugleich verschleiert wird. Kritik von Eltern oder Schülern an diesem Vorgehen ist kaum zu befürchten, denn wer beschwert sich schon über ein geschenktes Zertifikat?

Abitur als Allheilmittel des beruflichen Werdegangs? Wenn heute jedermann Abitur machen würde, wäre dies auch nichts Besonderes mehr und der Wert des Abiturs würde sinken. Spinnen wir den Faden weiter und jedermann würde nach dem Abitur studieren, so würde dies zwangsläufig bedeuten, dass ganze Branchen bzw. mittelständische Unternehmen ihre eh schon heute vorhandenen Nachwuchsprobleme nicht mehr in den Griff bekämen. Sterben mit der Forcierung des Abiturstrebens nicht auch ganze Berufsbilder aus?

Genau das ist zu befürchten. Der Akademisierungswahn führt nicht nur zu einer Entwertung des Abiturs und und von Hochschulabschlüssen, sondern auch zu einer Erosion des dualen Berufsbildungssystems. Der daraus resultierende Fachkräftemangel aber gefährdet die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die ja nicht zuletzt auf der hohen Qualität industrieller und handwerklicher Produkte beruht. So werden wir uns dann wohl daran gewöhnen müssen, dass etwa – wie in London geschehen – zur Reparatur einer Heizung ein studierter Philosoph erscheint, der sich durch „training on the job“ die Fachkenntnisse anzueignen versucht, über die heute ein Heizungsmonteur mit abgeschlossener Lehre in Deutschland selbstverständlich verfügt.

Veröffentlicht am 16.01.17

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Wie sagte schon Bacon: „Wissen ist Macht!“
*Francis Bacon, 1561 - 1625, Philosoph & Jurist
 

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