Ein persönlicher Erfahrungsbericht über Debattenkultur, Medienkompetenz und die Verantwortung meiner Generation
„Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit". Diesen Satz hört man oft, doch seine Bedeutung begreift man erst, wenn man demokratischen Diskurs selbst erlebt. In den vergangenen Jahren habe ich erkannt, dass dieser Diskurs eine erlernbare Fähigkeit ist, die Übung und Haltung verlangt. Projekte wie Jugend debattiert haben mir genau das vor Augen geführt. Dabei wurde eine Frage zum entscheidenden Kompass für mein eigenes Engagement: Was nützt die beste Debattiertechnik, wenn junge Menschen bei den zentralen Herausforderungen unserer Zeit kein Gehör finden?
Vom vermeintlichen Wissen zur echten Erkenntnis
Vor einigen Jahren war ich überzeugt, politisch gut informiert zu sein. Ich las Nachrichten, hatte klare Meinungen und konnte diese auch artikulieren. Rückblickend erkenne ich jedoch, dass ich Vertrautheit mit Schlagzeilen, Zustimmung aus meinem Umfeld und die Fähigkeit, eine Meinung klar zu formulieren, fälschlicherweise für echtes Verständnis hielt. Und auch heute ertappe ich mich immer wieder dabei, weshalb es umso wichtiger ist, regelmäßig innezuhalten und die eigenen Überzeugungen kritisch zu reflektieren. Doch bei Projekten wie Jugend debattiert wird man gezwungen, beide Seiten zu vertreten. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Debatte, in der ich eine Position verteidigen musste, die mir widersprach. Während ich Argumente recherchierte, passierte etwas Unerwartetes: Die Position wurde mir zwar nicht unbedingt sympathischer, aber nachvollziehbar. Plötzlich erkannte ich die Prämissen, die Werte, auf denen sie basierte und verstand, warum jemand sie vertreten könnte.
Diese Erfahrung hat mich im Laufe meines Engagements tief geprägt. Sie zerstörte die Illusion, dass Menschen mit anderen Ansichten die Fakten entweder nicht kennen oder bewusst ignorieren. Stattdessen hat sie mich gelehrt, dass intelligente, gut informierte Menschen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen können, weil sie unterschiedliche Werte priorisieren. Mittlerweile verstehe ich, dass genau diese intellektuelle Demut, das Eingeständnis, dass die eigene Position angreifbar ist, das Fundament demokratischer Kultur bildet.
Die digitale Herausforderung: Mehr Information, weniger Klarheit
Doch diese Erkenntnis allein reicht heute nicht mehr aus. Die größte Herausforderung unserer Generation liegt nämlich nicht im Mangel an Information, sondern in ihrem Überfluss. Wir leben im Zeitalter unbegrenzten Zugangs zu Wissen und gleichzeitig wachsender epistemischer Fragmentierung, jeder bewegt sich in seiner eigenen Informationswelt.
Algorithmen prägen unsere Realität so, dass sie uns engagiert hält, nicht so, dass sie uns informiert. Wir Jugendlichen bewegen uns zwar mühelos durch digitale Räume, doch diese technische Kompetenz täuscht leider oft. Viele von uns können nicht zuverlässig Quellen bewerten oder subtile Manipulation erkennen. Wir sind digital natives, aber oft epistemologische Waisen, ausgesetzt in einem Informationsökosystem, das nicht für Wahrheitsfindung optimiert ist, sondern für Aufmerksamkeitsbindung.
Die Schule reagiert darauf leider oft mit ineffektiven Maßnahmen. Statt vereinzelter Workshops zur Faktenprüfung brauchen wir die systematische Integration von Medienkompetenz als Haltung: die Bereitschaft, jede Behauptung und besonders die eigene kritisch zu prüfen und zu reflektieren. Erst wenn wir diese grundlegende Fähigkeit erlernen, können wir die Werkzeuge demokratischen Diskurses wirklich nutzen.
Der Widerspruch zwischen Bildung und Beteiligung
Hier zeigt sich allerdings ein grundlegender Widerspruch in unserem Demokratieverständnis: Wir reden viel über Demokratiebildung, aber wenig über demokratische Mitbestimmung. Jugendliche sollen lernen, wie Demokratie funktioniert, aber nicht mitentscheiden, wenn es um ihre Zukunft geht.
Wir debattieren über Klimapolitik, Wehrpflicht, Digitalisierung und Bildungsreformen – alles Themen, die unser Leben unmittelbar betreffen. Doch in parlamentarischen Entscheidungsprozessen sind wir systematisch unterrepräsentiert. Diese Entkopplung von Entscheidungsmacht und Folgenbetroffenheit untergräbt aus meiner Sicht die demokratische Legitimität fundamentaler Weichenstellungen. Wer heute über die Klimapolitik der nächsten dreißig Jahre entscheidet, wird deren Konsequenzen möglicherweise nicht mehr erleben, wir allerdings hingegen sehr wohl.
Gerade deshalb engagiere ich mich als Schüler:innensprecher auf Bundes- und Landesebene. Jugendliche brauchen Räume, in denen ihre Argumente tatsächlich Gewicht haben – nicht Alibi-Partizipation, sondern echte Mitbestimmung. Denn nur wenn wir die Möglichkeit haben, wirklich etwas zu bewirken, macht die Ausbildung demokratischer Kompetenzen auch Sinn.
Demokratie als permanenter Prozess
Diese Erfahrungen haben mir die wichtigste Erkenntnis überhaupt vermittelt: Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie besteht nicht darin, dassalle zur „richtigen" Meinung gelangen, sondern dass wir Verfahren besitzen, mit Meinungsverschiedenheiten konstruktiv umzugehen.
Dieser Prozess erfordert die Bereitschaft, die eigene Meinung zu hinterfragen und manchmal zuzugeben, dass man sich geirrt hat. In einer Kultur, die schnelle Reaktionen belohnt und Unsicherheit als Schwäche interpretiert, sind das radikale Haltungen. Genau diese Haltungen müssen wir kultivieren und das beginnend in der Schule. Das bedeutet, Räume zu schaffen, in denen kontroverse Positionen in ihrer stärksten Form vertreten und argumentativ geprüft werden können, ohne dass die Personen dahinter angegriffen werden.
Die Grenzen und Möglichkeiten
Dabei bin ich mir bewusst, dass Debattierprojekte und Engagement kein Allheilmittel sind. Sie erreichen oft primär bildungsnahe Jugendliche und bergen die Gefahr, Debattieren als rein technische Fertigkeit zu verstehen oder als Wettbewerb ums rhetorische Gewinnen statt gemeinsames Ringen um Erkenntnis. Zudem stellt sich die Frage: Reicht es, individuelle Kompetenzen zu fördern, wenn strukturelle Probleme, wie Algorithmen, Geschäftsmodelle der Empörung, Polarisierung als politische Strategie bestehen bleiben?
Die ehrliche Antwort lautet: Wahrscheinlich nicht allein. Aber das ist kein Argument gegen Diskursbildung, sondern für ihre Ergänzung durch strukturelle Reformen. Wir brauchen beides: junge Menschen, die diskursfähig sind, und Strukturen, die echten Diskurs ermöglichen und belohnen.
Konkrete Schritte für die Zukunft
Deshalb sollten Debattierformate verpflichtend werden und Medienkompetenz zur Querschnittsaufgabe des gesamten Unterrichts. Vor allem aber brauchen Jugendliche echte Mitbestimmungsrechte. Die Absenkung des Wahlalters, verbindliche Jugendbeteiligung und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit unseren Positionen in politischen Entscheidungsprozessen sind nur ein paar der vielen Möglichkeiten.
Denn hier liegt der zentrale Widerspruch unseres Systems: Wir bilden Jugendliche zu mündigen Bürgern aus, behandeln sie aber als politisch unmündig. Wir trainieren sie in Diskurskultur, geben ihnen aber keine Bühne. Wir reden von Demokratiebildung, verweigern aber Demokratie. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit untergräbt nicht nur die Motivation junger Menschen, sich einzubringen, sondern widerspricht auch dem demokratischen Grundgedanken selbst.
Die Herausforderung unserer Generation
Demokratie verlangt von uns allen, Menschen ernstzunehmen, deren Ansichten wir fundamental ablehnen. Sie bedeutet, die eigenen Überzeugungen ständig zur Disposition zu stellen und die Spannung auszuhalten zwischen dem eigenen Wahrheitsanspruch und der Anerkennung, dass andere diesen Anspruch ebenso legitim erheben können.
Für meine Generation ist das eine besondere Herausforderung. Die Versuchung ist groß, sich angesichts existenzieller Krisen in Gewissheiten zu flüchten und das Gegenüber nicht als Diskurspartner zu sehen, sondern als Hindernis auf dem Weg zur einzig richtigen Lösung. Doch genau dieser Versuchung müssen wir widerstehen. Nicht aus naiver Hoffnung, dass am Ende alle einer Meinung sein werden, sondern aus der Einsicht, dass Demokratie nur so funktioniert.
Mein Engagement gilt der Überzeugung, dass diese Fähigkeit erlernbar ist und gerade in Zeiten wachsender Polarisierung unverzichtbar. Demokratie stirbt nicht durch einen großen Zusammenbruch. Sie erodiert langsam, wenn wir aufhören, sie zu praktizieren. Wenn Diskurs durch Monolog ersetzt wird. Wenn aus Prozess Dogma wird.
Meine Generation wird die Konsequenzen heutiger Entscheidungen länger tragen als jede andere. Das gibt uns nicht automatisch Recht, aber es gibt uns das Recht, gehört zu werden. Nicht als Zukunft, sondern als Gegenwart.
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Moin! Ich bin Elliot Belmadani, 18 Jahre alt, und engagiere mich ehrenamtlich im Kernteam der Kampagne der Bundesschülerkonferenz „UNS GEHTS GUT?“. Außerdem nehme ich regelmäßig an Wettbewerben teil und konnte dort unter anderem den 1. Platz im Landesfinale Jugend debattiert Bremen in der Altersgruppe II gewinnen. Mit meinem Engagement und meinen Projekten möchte ich einen positiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten und andere motivieren, sich einzubringen und ihre Stimme zu zeigen.