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Gesamtschule Bockmühle - Projekt „Die Verwandlung – Terror im Kopf“

26. März 2012

Oktober bis Dezember 2008

Grundidee

Ahmed wächst in Deutschland auf. Deutsch ist seine Muttersprache, er ist fleißig und ehrgeizig, will etwas werden. Er hat eine nette Freundin, und seine Clique ist multikulturell. Dass er zuweilen auch Fremdenhass verspürt, weil er anders aussieht und einen anderen kulturellen Hintergrund besitzt als seine deutschen Klassenkameraden und Bekannten, steckt er einfach weg: Er will sich ja nicht verrückt machen lassen. Und es geht ihm gut. Doch dann passiert etwas, das ihn durcheinander bringt: Seine Cousine, mit der er früher viel zusammen war, die er geliebt hat wie eine Schwester, stirbt  in Afghanistan - erschossen von amerikanischen Soldaten. In der Trauer steht ihm Mohammed bei,  ein Verwandter und überzeugter Islamist. Der zeigt ihm Videos vom Krieg,  von der als Tötung von – muslimischen – Zivilisten, von Frauen und von Kindern. Und bringt ihn auf ganz neue Gedanken, so dass sein gesamtes Weltbild ins Wanken kommt …  Was sind die Etappen der Radikalisierung eines Menschen, der schließlich bereit ist zu töten? Welche Kränkungen oder welche Ideale machen ihn für den Terror anfällig? Kommt die Flucht aus der Komplexität des modernen Lebens in die Identität eines Kämpfers einer Heilssuche gleich? Welche Heimat bieten radikale Gemeinschaften, die den Islam als Legitimationsraum missbrauchen?

Das Theaterprojekt ‚Die Verwandlung‘ hatte sich zur Aufgabe gemacht, diesen Fragen nachzugehen, und nach Antworten zu forschen, gebündelt in einem Theaterstück, das zum denken anregt.

Projektablauf

Casting

In der Gesamtschule Bockmühle wurden Handzettel verteilt, und auch die Lehrer machten unser Vorhaben bekannt. Alle Interessierten sollten Anfang Oktober zu einem Casting kommen, bei dem die Gruppe zusammengestellt werden sollte. In der Jury saßen neben mir auch Yassine Abid (Gesamtschule Bockmühle), Janina Thurau (Regieassistentin) und Halima Zaghdoud (RAA/ interkulturelles Büro). An die vierzig Schüler hatten sich beworben, zwölf wollten wir auswählen. In  Improvisationsübungen, szenischen Experimenten, Solopräsentationen und Gesangseinlagen Einzelner konnten wir einen guten Eindruck von den Bewerbern bekommen. Auswahlkriterien waren: Schüler des 9. oder 10. Jahrgangs, Präsenz, Spiellust, Ausdrucksstärke, Konzentrationsfähigkeit und weitere künstlerische Fähigkeiten (Gesang, Rap, Tanz etc.). Wir bemühten uns einzuschätzen, wer voraussichtlich die Bereitschaft besitzen würde, sich für so ein umfangreiches Projekt zu engagieren (inklusive zahlreicher Proben außerhalb der Unterrichtszeit) und das entsprechende Durchhaltevermögen besaß. Und wir wünschten uns eine gute Mischung von Jungen und Mädchen sowie verschiedener kultureller Hintergründe der Spieler/innen. Die meisten der Bewerber hatten einen Migrationshintergrund, deutsche Bewerber gab es wenige. So hatten wir am Ende zwar die erstrebte Mischung Junge/Mädchen von 5:7, aber deutsche Spieler mit rein deutschem Hintergrund hatten wir keinen einzigen. Wohl aber Türken, Kurden, Iraker, einen Russen, eine Afghanin, eine Kosovo-Albanerin und eine Halb-Amerikanerin.

Block 1 (3 Tage, Donnerstag bis Samstag)

Im ersten Block ging es in erster Linie um das gegenseitige Kennenlernen. Wir machten viele Action-Spiele, Vertrauensspiele, Körperarbeit wie Yoga und Bewegungsschulung, arbeiteten mit Tanzelementen und absolvierten ein erstes Schauspieltraining. In einer längeren Sequenz forschten wir an weiteren, möglicherweise versteckten Möglichkeiten und Potenzialen der Spieler/innen. Um in die Thematik einzuführen, zeigten wir Filme, besprachen Zeitungberichte, sprachen über Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile, über die Politik der USA und über den Terror der Al Quaida.

Eine besondere Rolle in der Vorbereitung spielte ein Dokumentarfilm über den in den USA gefassten Terroristen Zacarias Moussaoui, die Bücher ‚Wer weint schon um Abdul und Tanaya?‘ und ‚Warum tötest du Zahid‘ des Politikers Jürgen Todenhöfer sowie die Theaterstücke ‚Gotteskrieger‘ von Lutz Hübner und ‚Jihad mon amour‘ von Edzard Schoppmann.

Yassine Abid erläuterte den Unterschied zwischen der breiten Masse der Muslime, streng gläubigen Muslimen, und Islamisten, die ihren Glauben politisch missbrauchen. Und er stellte den Schülern auch deren Strategien vor, wie sie neue Mitglieder werben und dazu bewegen, sich für ihre Sache zu engagieren.

Am Ende des Blocks kamen wir zurück auf die Grundidee des Stücks: Machten Brainstormings, szenische Improvisationen, stellten lebendige Bilder und sponnen gemeinsam an Elementen der Geschichte.

Im Anschluss wertete ich das Material aus und entwickelte ein Stückkonzept.

Block 2 (3 Tage, Donnerstag bis Samstag)

Zu Beginn des zweiten Blocks stellte ich mein Konzept vor, das von allen begrüßt wurde. Dann ging es um die Besetzung der Rollen. Fast alle Spieler/innen wollten in der Multikulti-Clique sein, nahezu niemand wollte einen Islamisten oder einen fremdenfeindlichen Jugendlichen Spielen. Das kostete einige Überzeugungsarbeit, dass es auch interessant sein kann, jemanden zu spielen, der ganz anders denkt und fühlt als man selbst. Am Ende konnten  wir alle Rollen besetzen, und jeder hatte eine Rolle, die ihm zusagte. Für die Rolle des Ahmeds, der zentralen Person des Stücks, machten wir ein ‚Extra‘-Casting, da sich mehrere Spieler darum beworben hatten. Die Entscheidung für Sinan Uckan war eindeutig und wurde von allen mitgetragen, inklusive der anderen Bewerber.

Gesucht wurde jetzt noch ein Rapper, da wir ja auch mit Musikeinlagen arbeiten wollten. Es gab mehrere Rapper aus dem Bekanntenkreis der Jugendlichen, die in Frage kamen. Ein glücklicher Zufall wollte es allerdings, dass Sinan Uckan neben seinen schauspielerischen Talenten auch die Fähigkeit besitzt, Songs zu schreiben und zu performen. Als er uns einen Song, den er selbst geschrieben hatte, vorstellte, waren wir sofort überzeugt: Sinan war ‚unser Mann‘, wir mussten nicht mehr suchen.

Es folgte eine Rollenarbeit, die Entwicklung von Rollenbiografien, erste szenische Versuche. Unser Stück nahm langsam Gestalt an.

Block 3 und 4 (2 mal vier Tage, Donnerstag bis Sonntag)

In Block 3 und 4 inszenierten wir das Stück. Das Bühnenbild kam hinzu, die Jugendlichen brachten auch Kleidungsstücke mit, die uns als Kostüme dienten.

Sinan Uckan bekam von mir den Auftrag, zwei weitere Songs zu schreiben. Das Themenfeld wurde von mir vorgegeben, ansonsten ließ ich ihm freie Hand.

Mehr und mehr arbeitete ich an der Verdichtung des Spiels, an der Glaubwürdigkeit des gezeigten sowie an Bühnenpräsenz und Stimme. Die Proben liefen sehr gut und waren effektiv. Einzig die Proben an den Wochenenden waren ein Problem, weil einige Spieler Fussballtraining hatten, andere arbeiten mussten und wieder andere einfach schlecht aus den Betten kamen. So konnten wir an den Wochenenden nur sporadisch proben.

Mehrmals gab es Schwierigkeiten für einige Spieler, weil ihre (muslimischen) Eltern sich über das Thema das Stück sorgten und ihren Kindern verbieten wollten, weiterhin zur Probe zu kommen. Das gab noch mal Reibungsverluste, doch dank der diplomatischen Gespräche von Yassine Abid, der zudem bei den Eltern als Islamgelehrter eine besondere Autorität besitzt, konnten alle Schwierigkeiten ausgeräumt werden. Einen Spieler musste ich wenige Wochen vor der Premiere aus der Gruppe entlassen, da er widerholt destruktiv agiert hatte und nicht zu den Proben erschienen war.

Doch als wir alle diese kleinen Krisen ausgestanden hatten, bekam die Gruppe noch mal ganz neuen Schwung und bereitete sich intensiv auf die drei Aufführungen vor.

Die Premiere und zwei Folgeaufführungen

Die Premiere und die zwei Aufführungen waren sehr erfolgreich. Die Schüler/innen wurden frenetisch bejubelt, das Stück und ihr Spiel ausgiebig gelobt. In der Schule sind sie jetzt kleine Helden, niemand hatte ihnen zugetraut, dass sie es so toll hinkriegen.

Nach der ersten und nach der dritten Aufführung gab es die Möglichkeit für Nachgespräche mit interessierten Zuschauern.  (Nach der zweiten Aufführung in der Schule übernahmen das die Lehrer). Unser Angebot wurde dankbar angenommen, viele Zuschauer blieben vor Ort, um mit uns über das Stück zu diskutieren. Zur Sprache kamen dabei kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten, das Kopftuch und der Koran, arrangierte Ehen etc. Die Jugendlichen Spieler genossen es offensichtlich, sich mit den anwesenden Zuschauern auszutauschen.
Mehrfach kam auch aus den Reihen der Zuschauer die Frage nach weiteren Aufführungen.
Der Leiter eines Stadteilprojekts wünscht sich ein ähnliches Projekt in seinem Stadtteil.

Mehrere Mitarbeiter von Institutionen (Jugendhäuser, Gewaltakademie Viligst etc.) fragten nach einer Dokumentation. Dem kann geholfen werden: Die Premiere wurde mit zwei Kameras professionell gefilmt, eine DVD ist in Arbeit.

Nachhaltige Auswirkungen - Entwicklungsprozesse

Das Thema hat alle Spieler sehr bewegt, sind doch die meisten von Ihnen Muslime und daher persönlich betroffen. Die vielen Informationen, die Yassine Abid und ich in die Gruppe gaben, die Ausleuchtung und Differenzierung der unterschiedlichen Perspektiven von muslimisch geprägter und westlich geprägter Gesellschaft und die leidenschaftlichen Diskussionen im Entstehungsprozess des Stücks lassen auf ein tieferes Verständnis  der unterschiedlichen Lebenswelten und Problemlagen hoffen. Über die persönliche Entwicklung der Spieler ließe sich vieles berichten. Kaum zu glauben, wie aus manchen schüchternen Mädchen ausdrucksstarke Spielerinnen wurden. Wie manche Jungs, die sonst nur Unsinn im Kopf zu haben scheinen, ihre Rolle ernsthaft und glaubwürdig gespielt haben. Und nicht nur die klassisch männlichen Seiten, sondern auch ‚weiche‘ Seiten wie der Ausdruck von Hilflosigkeit, Trauer oder Liebe. Manche der Schüler/innen konnte man kaum wieder erkennen, so sehr sind sie aufgeblüht.

Sinan Uckan, der Hauptdarsteller, hat seinen Berufswunsch geändert: Er will jetzt nicht mehr
KFZ-Mechatroniker werden, sondern Schauspieler - und ich denke er hat das Zeug dazu.

Lutz Pickardt, 12. Februar 2009

www.lutz-pickardt.de

Video auf YouTube

Gesamtschule Bockmühle

Kategorie:
Veröffentlicht am 26.03.12

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Wie sagte schon Bacon: „Wissen ist Macht!“
*Francis Bacon, 1561 - 1625, Philosoph & Jurist
 

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