5 Fragen — 5 Antworten mit Sigmar Gabriel

Sigmar Gabriel
Sigmar Gabriel (1959 in Goslar geboren) war seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1999 bis 2003 war er niedersächsischer Ministerpräsident. Als Mitglied der Bundesregierung war er danach Bundesumweltminister (2005-2009), Bundeswirtschaftsminister (2013-2017) sowie Bundesaußenminister (2017-2018). Von 2013 bis 2018 war er Vizekanzler und von 2009 bis 2017 zugleich Vorsitzender der SPD.
Die Frage, was man nach der Schule vorhat, nervt nicht nur die Abschlussklassen. Mit der Antwort „Irgendetwas mit …....“ zählen einige Schüler schon zu den Entschlossenen. Den eigenen Interessen folgen oder einen sicheren Weg gehen? Wozu würden Sie jungen Menschen heute raten?
Zunächst mal alle Möglichkeiten, die sich an der Schule oder auch außerschulisch (z.B. in den Ferien oder an Wochenenden) bieten, um in unterschiedliche Berufe „hineinzuschnuppern“. Mehr ist es ja in der Regel nicht. Dann würde ich NICHT nach der Frage entscheiden, ob sich der Beruf mit einem Universitätsabschluss erreichen lässt oder mit einer klassischen dualen Ausbildung. Sondern immer zuerst: könnte mir der Beruf Spaß machen, mein Interesse wecken, meine Neugierde befriedigen usw. Und ein drittes Kriterium wäre vielleicht: was kann ich mit der Ausbildung später anfangen? Lässt sie sich ausbauen, weiterentwickeln. In keinem Fall allein nur auf die Berufs- und Studienberatungen hören. Dort hört man nur eine Stimme von vielen. Und oft sind die Empfehlungen sehr getrieben von der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt und nicht vom Arbeitsmarkt der Zukunft. Außerdem erlernt man einen Beruf immer am besten, wenn man selbst Spaß daran hat. Und dann findet man hinterher auch Arbeit. Und dann der wichtigste Rat: raus aus dem „Hotel Mama“. Am besten den Schritt in eine andere Stadt wagen. Sonst lernt man nicht, „auf eigenen Füßen“ zu stehen. Dieses Gefühl zu erfahren, stärkt das Selbstbewusstsein ungemein. Und wenig ist so wichtig für beruflichen Erfolg wie Selbstbewusstsein.
Durch den Tweet der damals 17-jährigen Schülerin Naina, in dem der Wunsch nach "mehr lebensnahem Unterricht" geäußert wurde und Themen wie z.B. Steuern, Miete und Versicherungen mit behandelt werden sollten, wird die Diskussion um die Wissensvermittlung an unseren Schulen wieder neu befeuert. Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema, bereitet Schule zu wenig auf das Leben vor?
Das Motto von Schulen sollte sein: Menschen stärken – Sachen klären. Und zwar in der Reihenfolge. Selbstbewusste, aufgeklärte und wache junge Menschen zu erziehen oder an der Erziehung dieser Fähigkeiten mitzuwirken, scheint mir die wichtigste Aufgabe zu sein. Die „Sachen“ zu klären – also Fremdsprachen, Mathematik, Politik usw. zu erlernen – fällt leichter, wenn junge Menschen sich etwas zutrauen. Das ist natürlich nicht im Sinne eines „Hintereinander“ zu verstehen, sondern beides muss im schulischen Alltag integriert und miteinander verbunden sein. Aber Schule ist eben mehr als eine Wissenseinrichtung. Im Rahmen des Gemeinschaftskundeunterrichts dafür zu sorgen, dass die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems verstanden werden, halte ich für wichtig. Ob man dafür das komplizierteste Steuerrecht der Welt – das deutsche – zum Gegenstand machen sollte, daran hätte ich dann doch erhebliche Zweifel. Schule soll dazu befähigen, das Lernen und Lernen und Menschen darauf vorbereiten, dass sie im Leben vor Herausforderungen stehen werden. Einzelne praktische Fähigkeiten sollten besser als Beispiel denn als primäres Unterrichtsziel im Unterricht gelten.
An der PISA-Studie 2022, in der die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen getestet wurden, nahmen 690.000 Schüler*innen aus 81 Ländern und Regionen teil. Hier hatten die 15-/16-jährigen in Deutschland die schwächsten Leistungswerte erreicht, die für die Bundesrepublik jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden. Was läuft falsch im deutschen Bildungssystem?
Ziemlich viel. Es geht los mit mangelhafter Frühförderung. Wir wissen doch seit sehr langer Zeit, dass wesentliche Merkmale der Leistungsmotivation in den ersten drei bis fünf Lebensjahren ausgebildet werden. Dort mehr in die Kitas, Vorschulen und Grundschulen zu investieren, scheint mir am wichtigsten zu sein. Insbesondere da unsere Gesellschaft immer heterogener – vielfältiger – wird und wir deshalb nicht mehr auf ähnliche Voraussetzungen treffen, wenn ein Kind im Alter von sechs Jahren das erste Mal die Schule betritt.
Dann bestehen unsere Schulen im Wesentlichen aus Lehrerinnen und Lehrern. In Skandinavischen Schulen gehören Sozialpädagogen, Sportpädagogen, Theaterpädagogen, Ernährungserzieher usw. auch dazu – und zwar nicht als „add on“, sondern als integraler Bestandteil einer Schule, die sich als „pädagogisches Gesamtkunstwerk“ versteht. Und natürlich müssen unsere Schulen eigentlich alle Ganztagsschulen sein, damit die Fähigkeit zu Hause zu lernen nicht von der Bildungsmotivation der Eltern abhängt.
Darüber hinaus würde ich mir eine Schule wünschen, die sich intensiv auch mit der Frage beschäftigt, welche Angebote für die Schülerinnen und Schüler in den Ferien gemacht werden können, deren Elternhäuser wenig oder keine Möglichkeiten haben, Urlaub z.B. im Ausland zu machen. Internationale Erfahrungen scheinen mir wesentlich zu sein für unseren schulischen Bildungsauftrag.
Nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben die etablierten Parteien ein nicht unerhebliches Problem. AfD und BSW haben enorm dazu gewonnen. Sondierungsgespräche zwischen BSW und CDU haben bereits stattgefunden. Auch Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke hat sich mittlerweile mit Frau Wagenknecht getroffen. Wozu würden Sie Ihrem SPD-Kollegen raten bzw. hat er überhaupt eine Alternative?
Ich kann den Kollegen in den drei betroffenen Bundesländern keine Ratschläge erteilen und die Lage ist ja auch extrem kompliziert. Die Partei von Frau Wagenknecht, die ja den Eindruck macht, als gehöre ihr die Partei persönlich, stellt Forderungen an die Landespolitik, die nach Artikel 73 Absatz 1 unserer Verfassung ausschließlich in der Kompetenz der Bundespolitik liegen. Ein Land wie Deutschland macht sich international lächerlich und vor allem unkalkulierbar, wenn wir anfangen, in 16 Bundesländern eine unterschiedliche Außenpolitik zu betreiben. Das muss in der klaren und alleinigen Verantwortung des Bundes bleiben. Schon aus diesem Grund wäre mir lieber, in den Ländern würden Minderheitenregierungen möglich gemacht. Damit haben wir in Deutschland keine Erfahrungen. Aber Skandinavien zeigt ja seit Jahrzehnten, dass auch Minderheitenregierungen stabile Regierungen sein können. Es kommt letztlich auf die Verantwortungsbereitschaft aller Mitglieder von Parlamenten an.
Ziel der SPD war es nach meinem Verständnis, Menschen unabhängig von ihrer Herkunft ein freies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und dafür durch den Sozialstaat die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Es drängt sich mir allerdings verstärkt der Eindruck auf, dass die SPD diesen Sozialstaat immer mehr als Sozialhilfestaat versteht. Täuscht dieser Eindruck?
Nein, leider täuscht dieser Eindruck nicht. Der Sozialstaat war die wohl wichtigste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Die Idee dabei war, dass politische, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen, dass jeder Mensch ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Herkunft sollte nicht mehr über Zukunft entscheiden. Ein gelungenes Leben muss jeder letztlich selbst führen, das kann kein Staat und keine Partei garantieren. Aber Bedingungen schaffen – z.B. durch ein gutes Bildungssystem – dass prinzipiell jedes Leben gelingen kann und nicht vom Einkommen der Eltern, der Hautfarbe, der Religion oder der Herkunft abhängt, das kann Politik durchaus und das würde ich auch als wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie ansehen. Letztlich geht es um Freiheit: Freiheit nicht nur von Not und Unterdrückung, sondern auch um die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben. Die Sozialhilfe ist nur ein Bestandteil dieses Sozialstaates, die für die Zeit ein menschenwürdiges Leben sichern soll, in dem jemand nicht durch die Aufnahme von Arbeit selbst ein Einkommen erzielen kann. Sie ist aber nicht dazu da, letztlich ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle zu schaffen, wie es jetzt das neueingeführte Bürgergeld zum Ziel zu haben scheint. Mal abgesehen davon, dass das ja alles auch jemand bezahlen muss – und das sind die Menschen, die arbeiten gehen und Steuern zahlen – geht es im Sozialstaat immer um ein bedingtes Grundeinkommen: Bedingung ist die Unfähigkeit sozialversicherungspflichtige Arbeit aufzunehmen. Sei es durch Krankheit oder aus anderen objektiven Gründen. Aber es dient nicht zur Befreiung von Arbeit. Denn das würde die Gesellschaft teilen: in einen Teil, der sich der Mühsal der Arbeit unterzieht, und einen anderen, die das auf Kosten der Allgemeinheit nicht tun. Die Sozialdemokratie ist vor 160 Jahren entstanden, weil sie denen, die hart arbeiten gingen, einen fairen Anteil am Haben (Einkommen) und Sagen (demokratische Rechte) erkämpfen wollte. Soziale Sicherungssysteme waren auf Gegenseitigkeit ausgerichtet: wer kann, geht arbeiten. Wer das nicht kann, erhält so lange Hilfe, bis er oder sie wieder arbeiten gehen kann. Ohne dieses Gegenseitigkeitsprinzip scheitert jede Solidarität, weil der eine Teil sich vom anderen ausgenutzt fühlt.