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Gregor Gysi: 5 Fragen — 5 Antworten

6. Juli 2015

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Dr. Gregor Gysi (1948 in Berlin geboren) ist ein deutscher Rechtsanwalt und seit 2005 Fraktionsvorsitzender der Linkspartei. wissensschule tauschte sich mit ihm über seine Entscheidung Jura zu studieren, geringe Wahlbeteiligungen sowie Papst Franziskus Enzyklika aus.

Viele Schülerinnen und Schüler wissen nach der Schule oftmals nicht was sie machen sollen — direkt ins Studium, eine Ausbildung machen oder  im Ausland erste Erfahrungen sammeln? Den eigenen Interessen folgen oder einen sicheren Weg gehen? Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

In der DDR war es eine Zeit lang üblich, neben dem Besuch der Erweiterten Oberschule auch eine Berufsausbildung zu absolvieren. Das sollte der besseren Verankerung der Oberschülerinnen und Oberschüler in der Arbeiterklasse dienen. So schloss ich eine Ausbildung als Facharbeiter für Rinderzucht ab.

Da ich hinsichtlich eines Studiums völlig unschlüssig war, immatrikulierte ich mich im Fachbereich Ökonomische Datenverarbeitung an der Berliner Hochschule für Ökonomie, obwohl mich das Fach eigentlich nicht sehr interessierte.

So bewarb ich mich um ein Diplomatenstudium in Moskau, was meinen Interessen schon eher entsprach. Aber ein diesbezügliches Studium scheiterte daran, dass mir die Bedingungen extrem erschienen.

Schließlich riet mir die Frau eines bekannten Rechtsanwalts in der DDR, ich solle doch Jura studieren. Das wäre ein Studium für Doofe, und dafür müsse man die Gesetze nicht auswendig lernen, sondern nur wissen, wo etwas geregelt sei. Das klang für mich gut. Und so wurde ich Rechtsanwalt und gehörte eher zu denen, die nicht so recht wussten, welchen Weg sie nach dem Schulabschluss wählen sollten.

Fast täglich hören bzw. lesen wir von Kriegen, Gewaltausbrüchen, Folter, Flucht und Vertreibung. Kommt man sich da als gewählter Volksvertreter nicht ziemlich hilflos vor oder halten Sie es gemäß dem Songtext von Tim Bendzko "Muss nur noch kurz die Welt retten"?

Angesichts der Tatsache, dass sich die Welt seit geraumer Zeit in ziemlicher Unordnung befindet, ist man als Oppositionspolitiker eines Landes, das eher zu den Mittel- als zu den Großmächten wie die USA, Russland und China gehört, nicht völlig hilflos, weil es für viele Konflikte Lösungen gibt, die auf der Hand liegen, jedoch an ökonomischen und an Machtinteressen scheitern. Man ist aber ziemlich machtlos. Um nur ein Beispiel zu nennen: Deutschland liefert Waffen in alle Welt, auch und gerade in so genannte Spannungsgebiete wie den Nahen Osten und an Diktaturen wie Saudi-Arabien, das gerade Krieg gegen den Jemen führt. Die USA und Saudi-Arabien finanzierten militante Islamisten in Syrien gegen das Assad-Regime mit der Folge, dass die Islamisten im Irak und in Syrien ein brutales und menschenverachtendes so genanntes Kalifat errichteten. Wenn wir in Deutschland zumindest erreichten, dass keine Waffen mehr an Diktaturen und in Konfliktregionen geliefert würden, wäre das schon ein wichtiger Beitrag zum Frieden.

Die geringe Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen hat so manchen Politiker zum Nachdenken gebracht. SPD Generalsekretärin Yasmin Fahimi zeigt angesichts der gesunkenen Wahlbeteiligung Sympathien für das schwedische Modell, an mehreren Tagen zu wählen bzw. kann sich auch Wahllokale in Einkaufszentren vorstellen. Ist das nicht ein völlig ins Leere laufender Vorschlag und liegen die Ursachen nicht ganz woanders?

Die Vorschläge der SPD-Generalsekretärin sind eher Ausdruck von Hilflosigkeit. Man muss zunächst über die Ursachen geringerer Wahlbeteiligungen reden. Und da hat sich bei den letzten Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen gezeigt, dass die Wahlbeteiligung von relativ gut verdienenden Bürgerinnen und Bürgern in den bürgerlichen Stadtteilen weit über 50%, zum Teil bei 70%, lag. In den Bezirken mit sozialen Problemen, mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen und Hartz-IV-Beziehenden dagegen war die Wahlbeteiligung sehr niedrig, lag im Schnitt nur bei etwa einem Drittel. Mit anderen Worten, die anderen zwei Drittel von ihnen gingen nicht mehr wählen, weil sie für sich von der Politik nichts mehr erwarten. Die vorhandene Spaltung unserer Gesellschaft drückt sich inzwischen auch in der Wahlbeteiligung aus.

Das wiederum hat zum einen sehr viel mit der enormen Ausdehnung prekärer Beschäftigung, mit der Entstehung eines Niedriglohnsektors als Ergebnis der Schröder´schen Agenda 2010-Politik zu tun, die von den Nachfolgeregierungen fortgesetzt wurde.

Ein zweiter Punkt wachsender Politikverdrossenheit und Politikabstinenz besteht in einer Politik, immer weitere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge zu privatisieren. Wenn ein Stadtwerk zur Stromerzeugung einem privaten Unternehmen gehört, dann haben die Bürgerinnen und Bürger und ihre Gewählten kaum Einfluss auf die Preisgestaltung.

Man muss also die Politik deutlich verändern, die die Probleme der niedrigen Wahlbeteiligungen verursachten. Und man sollte die repräsentative Demokratie endlich ergänzen mit Elementen der direkten Demokratie, der direkten Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger an der demokratischen Willensbildung, also durch die Einführung von Volksentscheiden und Volksbegehren auf Bundesebene. Man könnte auch darüber nachdenken, am Tage der Bundestagswahlen zwei oder drei zentrale Fragen direkt zur Abstimmung zu stellen. Das würde die kandidierenden Parteien zwingen, sich mit diesen Themen zu befassen und nach den Wahlen auch an die Entscheidungen binden. Kurzum: Es geht darum, die Demokratie attraktiver zu machen.

Weniger als acht Prozent der Abgeordneten im Bundestag sind unter 35 Jahren - in der Bevölkerung kommt diese Altersgruppe auf 35 Prozent. Eines der großen Probleme unserer Zeit scheint zu sein, dass junge Menschen nicht daran glauben, politische Entwicklungen beeinflussen zu können. Was läuft  falsch in unserem Land und wie kann hier gegen gesteuert werden?

Junge Menschen sind im Zeitalter des Internet besser und breiter informiert als früher. Sie haben Zugriffe auf sehr unterschiedliche Meinungen und Ansichten. Andererseits wissen viele auch, dass sich die heutige Politik den Interessen von Banken und Konzernen verpflichtet fühlt, das Primat der Wirtschaft über die Politik herrscht. Stichworte dafür sind die Bankenkrise vor 7 Jahren, für deren Überwindung die Staaten Rettungspakete in Milliardenhöhe einsetzten, sich dafür hoch verschuldeten und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haften ließen. Aber auch die geplanten Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA und Kanada dienen den Konzerninteressen, mögliche Barrieren oder „Handelshemmnisse“ wie Umwelt- und Verbraucherschutz, soziale Standards, Arbeitsschutz und vieles mehr zumindest teilweise aus dem Weg zu räumen und mit Entschädigungsklagen vor so genannten Schiedsgerichten, die außerhalb rechtsstaatlicher und demokratischer Kontrollen liegen, durchzusetzen.

Das Interesse an Politik würde sofort wieder zunehmen, wenn endlich wieder das Primat der Politik durchgesetzt würde. Dann stiege auch die Wahlbeteiligung und die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, wieder stärker an.

Papst Franziskus übt in seiner Enzyklika scharfe Kritik an der Unterwerfung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft und an der Profitgier als alleinigem Maßstab wirtschaftlichen Handelns . Beugt sich die Politik dem Primat des Kapitals?

Die jüngste päpstliche Enzyklika gehört zur besten seit vielen Jahren. Sie ist eine kritische Abrechnung mit dem Kapitalismus, der Unterwerfung aller gesellschaftlichen Beziehungen unter die Diktate und Sachzwänge der Märkte. Sie stellt die Menschen und ihre Entwicklungen in den Mittelpunkt, ist also dem finanzgetriebenen, profitorientieren Kapitalismus weit voraus.

Veröffentlicht am 06.07.15

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Wie sagte schon Bacon: „Wissen ist Macht!“
*Francis Bacon, 1561 - 1625, Philosoph & Jurist
 

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