Wie jetzt, keine Noten?! Funktioniert Leistungsbewertung in der Schule ohne Noten?
Das erste nachweisbare Zensurensystem wurde in der sächsischen Schulordnung von 1530 definiert. Um 1850 wurden die Schülerinnen und Schüler in Preußen nach drei Notenstufen bewertet, wobei in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Erweiterung auf vier Noten (sehr gut, gut, genügend und ungenügend) folgte. Das heutige übliche sechsstufige Zensurensystem wurde 1938 eingeführt.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Noten einen immensen Vorteil haben: Sie werden von jedem verstanden (vgl. M. von Saldern: Schulleistung 2.0, Von der Note zum Kompetenzraster, Schule in Deutschland 4, Books on Demand, 2011). Ein großer Nachteil liegt aber darin begründet, dass eine Note keine Aussage darüber macht, worin genau die erbrachte Leistung des Schülers besteht bzw. was genau in Zukunft verbessert werden muss. Eine transparente, angstfreie und gewinnbringende Leistungsrückmeldung hat die Schulentwicklungsgruppe der Gemeinschaftsschule „Europaschule Rheinberg“ schon vor der Schulgründung intensiv beschäftigt. Dabei ging es vor allem um die Frage: Wie kann eine Leistungsrückmeldung bei einer heterogenen und inklusiven Schülerschaft des längeren gemeinsamen Lernens für jeden Einzelnen hilfreich sein in Bezug auf das weitere erfolgreiche individuelle Lernen, ohne zu frustrieren oder zu demotivieren?
Die Gemeinschaftsschule „Europaschule Rheinberg“ wurde im Schuljahr 2011/12 als Modellschule des längeren gemeinsamen Lernens des Landes NRW gegründet. Zu ihren Schwerpunkten zählen neben Heterogenität und Inklusion das individuelle Lernen sowie das selbstständige und forschende Arbeiten. Als wichtiger pädagogischer Schwerpunkt wurde schon in der Gründungsphase die individuelle Stärkenförderung betont und führte folgerichtig zu einem Schulkonzept, das weder das Sitzenbleiben noch die Leistungsrückmeldung in Form von Ziffernnoten zulassen konnte. Transparente Leistungsrückmeldungen sind aber insgesamt ein entscheidender Bestandteil an der Europaschule Rheinberg und werden viel häufiger vorgenommen als an herkömmlichen Schulen.
In allen Fächern wird kompetenzorientiert unterrichtet und bewertet. Die zu erreichenden Kompetenzen sind den Schülern genau bekannt und werden pro Quartal auf einem übersichtlichen Lernstandsbericht individuell ausgewiesen, und zwar auf vier Niveaustufen: „Darin bist du sicher“, Das gelingt dir recht gut“, Darin bist du unsicher“ und „Das gelingt dir noch nicht“. Auf dieser Grundlage findet viermal im Jahr ein halbstündiges Lernentwicklungsgespräch mit einem der beiden Klassenlehrer, den Eltern und dem Schüler statt. Die Gesprächsführung übernimmt der Schüler, der zunächst seine Stärken hervorhebt und gegebenenfalls die von ihm als besonders empfundene eigene Produkte, die er im Verlauf des jeweiligen Quartals erstellt hat, benennt bzw. vorstellt. Bereiche, in denen der Schüler im Gespräch mit den anderen Gesprächsteilnehmern Verbesserungen im Verlauf des nächsten Quartals anstrebt, lassen sich anhand der differenzierten Kompetenzbeschreibungen als Lernziele formulieren. Dabei finden sich neben fachlichen Verbesserungswünschen auch durchaus angestrebte soziale Ziele bzw. Ziele bezogen auf Arbeitsverhalten und Anstrengungs-bereitschaft. Diese Lernzielvereinbarungen werden dokumentiert und von allen Beteiligten unterschrieben. Um die angestrebten Lernziele nicht aus den Augen zu verlieren, notieren sich die Schüler zu Beginn einer jeden Schulwoche, was sie sich für dieses Quartal besonders vorgenommen haben, in ihr Lernbegleitheft, das u.a. auch als Dokumentation des wöchentlich Gelernten dient.
Neben der Fremdeinschätzung durch die Lehrkräfte wird die Selbsteinschätzung der Leistungen an der Europaschule Rheinberg intensiv eingefordert, um die Verantwortung für das eigene Lernen deutlich zu machen. So ermöglichen Kompetenzchecklisten, die zu Beginn jeder Unterrichtsreihe ausgegeben werden, dass die Schüler ihre Leistungen selbstständig nach jeder Unterrichtsstunde einschätzen und dokumentieren, auf welcher Niveaustufe der jeweiligen Kompetenz sie sich selbst sehen. Anhand dieser Einschätzung können die Schüler in den vier IGL-Stunden (Individuell gesteuertes Lernen) in den Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik einzelne fachliche Kompetenzen verbessern bzw. intensiver üben. Das passende Selbstlernmaterial finden sie in drei nebeneinander liegenden Räumen, in denen sie von einem Deutsch-, Englisch- und Mathematiklehrer beim selbstständigen Lernen je nach individuellem Bedarf unterstützt werden. Der Abgleich mit Lösungsblättern sowie freiwillige Tests, die jederzeit und beliebig oft geschrieben werden können, geben den Schülern ebenfalls eine Rückmeldung über die erreichte Kompetenzstufe. Wichtig für das Einüben eines verantwortungsbewussten Selbstlernens ist uns hierbei, dass die Schüler selbstständig entscheiden, welchen Kompetenzen sie sich in welchem Fach zu welchem Zeitpunkt intensiver widmen wollen. Auch dieses Verhalten ist Gegenstand des vierteljährlichen Lernentwicklungsgesprächs und kann einer Erfolgsüberprüfung unterzogen werden.
Zur intensiven Stärkenförderung wird das Erreichen von Zusatzkompetenzen angeboten sowie das Drehtür-Modell, das anstelle einer IGL-Stunde gewählt werden kann. Mit Unterstützung von zwei Lehrkräften beschäftigen sich die Schüler intensiv mit einem Thema, was sie am Ende des Schuljahres den Eltern und anderen Interessierten präsentieren.
Ohne Ziffernnoten gelingt es, die individuellen Stärken jedes Einzelnen ganz konkret hervorzuheben. Auf dieser Grundlage, die das Wissen um die eigene Wertigkeit erfahrbar macht und somit eine ungemein nützliche Stärkung des Selbstbewusstseins ermöglicht, entwickelt sich ein selbstbestimmtes Leistungsprofil, mit dem auch sichtbar gemachten Schwächen konstruktiv begegnet werden kann.
Vor allem aber lassen sich Schüler beobachten, die gerne zur Schule kommen und Kompetenzüberprüfungen angst- und stressfrei bewältigen.
Ein Gastbeitrag von Claudia Giesen-Reinartz.