5 Fragen — 5 Antworten "Inklusion": Mit Ute Erdsiek-Rave
In unserer Rubrik "Inklusion" wollen wir Wissensvermittler zu unterschiedlichen Themen im Bereich „Inklusion“ zu Wort kommen lassen und um ihre Meinung fragen. Heute tauscht sich wissensschule mit Ute Erdsiek-Rave aus. Sie ist Vorsitzende des Expertenkreises "Inklusive Bildung" der Deutschen UNESCO-Kommission. Zuvor war sie in der Politik in verschiedenen Ämtern tätig; von 1998 bis 2009 war sie Ministerin für Bildung, von 2005 bis 2009 auch stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein.
Bis 2030 müssen alle Menschen eine chancengerechte, inklusive und hochwertige Bildung erhalten. Das hat die Weltgemeinschaft vor zwei Jahren mit der Verabschiedung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda beschlossen.Das gilt natürlich auch für Deutschland. Wo stehen wir heute?
Das deutsche Bildungssystem ist in zahlreichen Bereichen im internationalen Vergleich weit entwickelt .Zugleich aber gibt es große Herausforderungen, vor allem wenn es um die Bildungschancen geht. Die zentrale bildungspolitische Herausforderung in Deutschland bleibt der Abbau anhaltender Ungleichheiten aufgrund sozio-ökonomischer Herkunft, Migrationshintergrund oder Behinderung. Nach wie vor bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Auch Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf sind weiterhin benachteiligt. Ich beobachte, dass hierzulande mittlerweile zwar ein Großteil der Gesellschaft weiß, was inklusive Bildung ist. Doch in der Umsetzung gibt es noch enorm viel zu tun. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind immer noch groß, die Wege zur Verwirklichung von Inklusion verschieden. Die Zahl der Kinder, die inklusiv lernen, ist deutlich gestiegen, aber die Zahl der sogenannten Sonderschüler auch. Bei allen strukturellen Entwicklungen müssen wir unbedingt darauf achten, dass auch die Qualität der Bildung verbessert wird. Das heißt: mehr und bessere Aus- und Fortbildung, mehr Investitionen und insgesamt mehr Unterstützung der Schulen.
In den skandinavischen Ländern und einigen Ländern Südeuropas gehört inklusive Bildung bereits zum gelebten Alltag. Weniger als ein Prozent aller Kinder gehen in Förderschulen. Was wird dort anders gemacht?
Besonders die skandinavischen Gesellschaften sind stärker auf Chancengleichheit und auf Vielfalt in einem einheitlichen Schulsystem ausgerichtet. Die Schulsysteme wurden vor Jahrzehnten auf langes gemeinsames Lernen umgestellt. Sonderschulen sind dort so gut wie abgeschafft. Die bildungspolitischen Debatten sind pragmatischer und weniger ideologisch als in Deutschland. In Deutschland hinken wir da hinterher – auch was die Akzeptanz und Wertschätzung von Menschen mit ihren vielfältigen Eigenschaften und persönlichen Hintergründen angeht.
Es wird sicherlich noch eine Zeitlang brauchen, bis Inklusion im deutschen Bildungssystem eine Realität ist. Gibt es aus Ihrer Sicht übertragbare Erfolgskriterien, die bei der Umsetzung helfen können?
Ein planvolles und schrittweises Vorgehen, getragen von einer entschiedenen Haltung, das sind die entscheidenden Voraussetzungen für das Gelingen – auf der Landesebene genauso wie in der Kommune und der einzelnen Schule. Wir haben mit dem Expertenkreis der Deutschen UNESCO-Kommission und vielen Inklusionsexperten in ganz Deutschland die UNESCO-Leitlinien für eine inklusive Bildungspolitik auf die deutschen Rahmenbedingungen angepasst. Sie bieten eine gute Hilfestellung für eine systematische Umsetzung von Inklusion auf allen Ebenen des Bildungssystems. Sie sollen aber nicht als Blaupause verstanden werden – jede Schule, jede Kommune kann sie auf ihre Weise adaptieren. Natürlich muss auch immer mit Ängsten und Vorurteilen gerechnet werden. Ihnen begegnet man am besten mit guten Beispielen aus der Praxis, aber auch mit Aufklärung, Weiterbildung und Unterstützung der Lehrkräfte.
Der Begriff digitale Inklusion ist derzeit in aller Munde. Was bedeutet digitale Inklusion für Sie und wo stehen wir hier und jetzt?
Inklusion bedeutet ja, dass Menschen, ganz gleich welche besonderen Eigenschaften sie mitbringen, vollständig an der Gesellschaft teilhaben und ihre Potenziale entwickeln können. Das gilt selbstverständlich auch im digitalen Raum und über den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien. Für die Bildung bedeutet das, dass jeder und jede die Kompetenzen erlangt, um den digitalen Wandel zu seinem Vorteil nutzen zu können und vollständig an der Gesellschaft – die sich zunehmend auch im digitalen Raum bewegt – teilhaben kann.
Ländern und Kommunen streiten darüber, wer nun in welcher Höhe für Schulumbau, Sozialpädagogen und Integrationshelfer bezahlt. Welche Rahmenbedingungen müssen sich ändern, damit Kommunen in Zukunft inklusive Bildung hochwertig umsetzen können?
Inklusive Bildung kann nur gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen und gemäß gemeinsamen Standards handeln. Alle heißt dabei: Bund, Länder, Kommunen, Lehrkräfte, Eltern, Schüler, die Sozialdienste und viele mehr. Die Rahmenbedingungen müssen natürlich stimmen, damit inklusive Bildung auch in der Praxis hochwertige Bildung bedeutet.
Ich hoffe sehr darauf dass es ein zwischen Bund, Ländern und Kommunen abgestimmtes und mit ausreichenden Ressourcen versehenes Programm zur Förderung der inklusiven Bildung geben wird, so wie es die Deutsche UNESCO-Kommission gefordert hat.
Wir brauchen in den Ländern Konzepte für die planvolle Zusammenführung von Förderschulen und allgemeinen Schulen zu einem inklusiven Bildungssystem. Das geschieht noch längst nicht überall - allzu häufig wird auch noch der status quo verteidigt. Dabei wird auch oft vergessen, dass ein Doppelsystem von inklusiven und Förderschulen kaum bezahlbar ist.
Lehrkräfte müssen durch multiprofessionelle Teams in ihrer Arbeit unterstützt werden. Damit Lehrkräfte aber zunächst einmal überhaupt wissen, wie inklusive Bildung gelingen kann, muss Inklusion verpflichtender Bestandteil der Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle pädagogischen Berufe werden.
Wir sehen in der Praxis, dass inklusive Bildung besonders gut funktioniert, wenn sich die Bildungseinrichtungen mit kommunalen Institutionen und der Zivilgesellschaften in Netzwerken zusammenschließen, in denen eine Kommunikation zu den sehr vielfältigen Notwendigkeiten für die Umsetzung inklusiver Bildung erfolgt. Und nicht zuletzt ist es wichtig, gemeinsam mit Arbeitgebern und Arbeitsverwaltung die Berufsorientierung und die Übergänge in der Ausbildung benachteiligter junger Menschen zu verbessern und Wege in den Arbeitsmarkt zu ebnen. Noch immer bleibt zu vielen Menschen mit Förderbedarf der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt verwehrt.
Es gibt also noch viel zu tun. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen und Inklusion aufgrund mangelhafter Ressourcen zwischen die Räder geraten lassen. Wenn wir es richtig angehen, werden alle von der inklusiven Bildung profitieren, der Hochbegabte genauso wie die Schülerin mit Förderbedarf. Denn Inklusion ist gute Bildung für alle.