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Das sagt der Lehrer — Muss Unterricht praxisnäher sein?

25. Januar 2016

hohenstein-2Steuern, Miete und Versicherung statt Gedichtsanalyse und lineare Funktion — ist der Unterricht an deutschen Schulen zu praxisfern? Jüngst äußerte eine 17-jährige Gymnasiastin aus Köln ihren Unmut auf Twitter und wünscht sich ganz offen „mehr lebensnahem Unterricht“. Wir haben mit Marcus Hohenstein, Studienrat an einem Gymnasium in Siegen, gesprochen. Er unterrichtet Physik und Religion und hat seine Meinung mit uns geteilt.

Wie ist Ihre Meinung zu diesem Thema?

Unser Problem ist nicht mangelnde Lebensnähe des Unterrichts, sondern dass der Unterricht das Ziel einer umfassenden Bildung nicht mehr erreichen kann. Durch die sogenannten Reformen der vergangenen Jahre (weg von der Inhaltsorientierung, Zwang zum Nachmittagsunterricht und „Entschlackung“ von Lehrplänen wegen Schulzeitverkürzung) haben wir heute Abiturienten, die nicht in der Lage sind, eine Ausbildung zum IT-Systemtechniker (Vorraussetzung: mittlere Reife) zu absolvieren. Sie beherrschen weder Grundkenntnisse wie Bruchrechnung – von schriftlicher Division ganz zu schweigen - noch einfache physikalische Zusammenhänge. Aber auch im sprachlichen Bereich sieht es nicht besser aus. Die Methode „Lesen durch Schreiben“, die an vielen Kindern in der Grundschule ausprobiert wird, hat zu Schülern geführt, die bis zum Ende ihrer Schullaufbahn massive Unsicherheiten in der Rechtschreibung haben.

Was sollte Ihrer Meinung nach an lebensnahen Themen auf dem Lehrplan stehen?

Das Leben findet im Leben statt und nicht in der Schule. Wenn Schüler heute immer mehr ihrer täglichen Lebenszeit in der Schule verbringen, wo die Elterngeneration außerhalb der Schule noch eigene Erlebnisse gemacht und Erfahrungen gesammelt hat, muss man sich nicht wundern, dass Schülern heute der Lebensbezug fehlt. 

Sollten dabei auch beispielsweise Experten aus unterschiedlichen Bereichen stärker mit einbezogen werden, können Sie dazu ein zwei Beispiele nennen?

Experten aus anderen Bereichen haben in der Vergangenheit im Sport, in der Musik und in freien Jugendgruppen mit Jugendlichen gearbeitet. Die Kinder und Jugendlichen haben dort ganz natürlich gelernt, dass Schule nicht alles ist und sie haben ihren Charakter in neuen Situationen ausbilden können. Dabei standen Ihnen Experten direkt im Lebensvollzug zur Verfügung. Wenn heute gefordert wird, die Vereine sollen in die Schule kommen, um dort den Ganztag aufzufüllen, ist dies nur ein Placebo für Erfahrungen im wahren Leben.

Welche Auswirkungen hat G8 auf das Lernverhalten der Schüler bzw. welche psychischen Auswirkungen sehen Sie hier?

G8 bedeutet Langtag, also Unterricht von 8 bis 16 Uhr und in der Schule verbrachte Mittagspause. Außerdem bedeutet G8 Französisch und Latein in der Klasse 6. G8 heißt Streichung von Deutsch, Mathematik- und Englischunterricht im Umfang eines Schuljahres. Die Kombination dieser Faktoren führt zur Entwicklung des „Teaching for the test“ an deutschen Gymnasien. Die Schüler versuchen mit ihrer verbleibenden Lebenszeit das zu schaffen, was möglich ist. Und das ist: Lernen für den nächsten Vokabeltest, die nächste Lateinarbeit. Dabei fällt die Möglichkeit weg, dass etwas ins Langzeitgedächtnis kommt. Es ist neurologisch bewiesen, dass für die Aufnahme ins Langzeitgedächtnis Üben und Lernpausen mit Bewegung und Schlaf eine entscheidende Rolle zukommt. All diese Faktoren werden durch G8 gestört.

Unternehmen und Unternehmensverbände beklagen seit Jahren die mangelnde Ausbildungsfähigkeit junger Menschen. Ist dies nicht auch ein Indiz dafür, dass G8 nicht die gewünschten Erfolge zeitigt und sollten die Verbände dies nicht stärker gegenüber der Politik formulieren? 

Der Unternehmerverband Niedersachsenmetall hat die verheerende Wirkung von G8 klar erkannt: „G 8 hat unsere Erwartungen bei Weitem nicht erfüllt“, so Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer. „Die Jugendlichen werden mit Lernstoff vollgepfropft, sodass für ehrenamtliches Engagement keine Zeit mehr ist. Kreativität und Selbstständigkeit bleiben auf der Strecke.“ Niederachsenmetall hat 800 Betriebe befragt. Zwei Drittel aller Personalleiter sagen, dass das Qualifikationsniveau und die Persönlichkeitsentwicklung der Abiturienten nach ihrem Eindruck unter G8 gelitten habe.

Veröffentlicht am 25.01.16

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Wie sagte schon Bacon: „Wissen ist Macht!“
*Francis Bacon, 1561 - 1625, Philosoph & Jurist
 

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