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"WOHLBEFINDEN" - Schule neu denken!

11. Juni 2019

An Anfang waren es „nur“ Wahrnehmungen, Auffälligkeiten, Sorgen. Dann wurde daraus eine NRW- weite Online- Umfrage unter Schüler*innen mit erschreckenden und bestürzenden Ergebnissen. Dann haben wir es weiter gedacht und am Ende steht das gesamte System in Frage: Stellen wir mit unserem Schulsystem eigentlich (noch) die richtigen Fragen? Und geben wir überhaupt Antworten auf das, was sich in unserer Gesellschaft wandelt und entwickelt? Ist Schule, wie sie derzeit ist, eher Teil von Lösungen oder Teil der Probleme? Je mehr wir fragen und nachdenken, desto stärker müssen wir anregen, Schule völlig neu zu denken. Von diesem Weg hin zu einer Landtagspetition möchte dieser Text berichten.

Es ist ca. 20 Jahre her, dass der wohl einschneidendste Schnitt in der jüngeren Schulgeschichte Deutschland erfasste: Die erste PISA- Studie und der darauf folgende PISA- „Schock“ durchfuhr das Land. PISA hatte in einem Leistungsvergleich ermittelt, dass deutsche Schüler*innen im Vergleich mit denen anderer OECD- Staaten gerade einmal mittelmäßig abschnitten. Warum aber der folgende, tiefgreifende Schock? Die Studie wurde durchgeführt von der OECD, der es auftragsgemäß um die Ermittlung der Zukunftsfähigkeit ihrer Mitgliedsstaaten im Hinblick auf ECONOMICDEVELOPMENT ging. Folgerichtig ermittelte man also die Kompetenzen von Schüler*innen in den für die Wirtschaft besonders relevanten Gebieten Mathe, NW und Sprachverständnis. Und nun dies: Deutschland nur mittelmäßig. Die wirtschaftlichen Erfolge seit Beginn der Industrialisierung basierten doch zu einem großen Maß auf deutscher Ingenieurskunst, verfügt Deutschland doch über kaum anderweitige bedeutende Ressourcen seit dem Niedergang der Kohle. Jahrzehntelang waren „wir“ doch konkurrenzfähig und wohlständig über Thyssen, Krupp, Siemens, Audi, Mercedes und CO. und nun dies: Drohte nicht die Zukunftsfähigkeit ganz Deutschlands einzubrechen, wenn deutsche Schüler*innen in diesen ökonomisch so bedeutenden Bereichen nur mittelmäßig waren, würden „wir“ nicht überholt von Skandinaviern, Asiaten, am Ende gar Drittweltstaaten? Derartig tiefgreifenden Fragen gegenübergestellt ergaben sich sehr schnell und sehr weitreichend eine ganze Reihe von Maßnahmen von Seiten der Schulpolitik, die der PISA- Logik und politischer Logik folgten: A) In der PISA- Logik ergaben sich auf schulischer Ebene mehr zentrale Prüfungen, mehr Standardisierungen, ein Paradigmenwechsel weg von der ursprünglichen Input- und der zwischenzeitlichen Prozeßorientierung hin zu einer alle Bereiche erfassenden Outputorientierung, eine Begleitung des Schulalltags durch alle möglichen Leistungserhebungen (PISA/ PIRLS/ TIMSS/ Lernstandserhebungen/ zentrale Prüfungen/ Zentralabiture usw.), Fokussierungen möglicher Förderkonzepte v.a. auf die Bereiche M/D/NW, in vielen Fächern nach der Umstellung auf kompetenzorientierte Lehrpläne eine Ausweitung und Verdichtung von Fachinhalten und ein „nach unten Fortsetzen“ dieser Tendenzen auch in den Kinder – und Kleinkinderbereich – z.B. Delfin- Sprachtests und der Trend zu Zertifizierungen in Kindergärten und Horten in Richtung von Frühförderungsangeboten à la „Der kleine Mathe- Einstein“ oder „Englisch für Dreijährige“, begleitet von einer einsetzenden Akademisierung der Beschäftigten  der Institutionen der frühkindlichen Bildung (mindestens für die Leitungen der Einrichtungen).B) Auf politischer Ebene ergab sich ein Entgegenfiebern neuer PISA- Ergebnisse und das Interesse, selbst kleinste Verbesserungen in diesen Ergebnissen relativ unreflektiert den eigenen getroffenen Maßnahmen zuzuschreiben, die sich damit selbst immer weiter verstärkten.

Die Schüler*innen der SV unserer Schule nahmen immer stärker mehr die Folgen des Geschehens als die geschilderten Hintergründe wahr: Schulen konnten die Stundentafeln nicht mehr gewährleisten, wollten sie den Schüler*innen eine ja schon nach den Änderungen in der APO-GOSt von 2009 ohnehin eingeschränkte Wahlfreiheit von Kursen ermöglichen, die Stunden passten einfach nicht mehr in das Raster von Mo.- bis Fr. 1. – 9. Stunde, dazwischen eine Stunde Mittagspause. Also bildeten Schulen „Profile“ (z.B. Wahl- Einschränkungen auf nur wenige mögliche LK- Kombinationen), erfanden die „Nullte Stunde“ neu, machten die Mittagspause zu Unterrichtsstunden in der Stundentafel oder verlängerten Schultage bis in die 11. oder 12. Stunde. Die SV- Schüler*innen betrachteten immer verwunderter ihre eigene Situation und recherchierten: An unserer Schule hatten Schüler*innen vor 10 Jahren in der Jgst. 13 noch durchschnittlich 25 Wochenstunden, jetzt haben sie 34. Viele Schüler*innen berichteten davon, dass sie es neben der Schule kaum noch schafften, sich ehrenamtlich, sportlich oder kulturell zu engagieren. Sie berichteten davon, wie schwer es ihnen fiel, in der 12. Stunde noch aufnahmefähig zu sein und zweifelten daran, dass die Logik „mehr Mathe- Stunden = mehr Mathe- Kompetenzen“ so einfach zuträfe. Sie nahmen wahr, wie einzelne Mitschüler*innen sich in Klausurzeiten mit Medikamenten „fit“ hielten, sich insgesamt ihre Ernährung umstellte, sich Schlafprobleme einstellten und wie einzelne irgendwann einfach zusammenbrachen (im Ruhrgebiet beträgt die Wartezeit für psychologische oder psychiatrische Beratungen und Therapien Jugendlicher zur Zeit oft ca. 1 Jahr, weil die Beratungsstellen so „überlaufen“ sind). Warum, so fragten sie, hat in über 70 Jahren Schule in NRW noch nicht eine einzige Landesregierung neben PISA, PIRLS, TIMSS und Co die Idee gehabt, einfach mal Schüler*innen zu fragen, wie es ihnen eigentlich geht? Mittlerweile ist diese Frage hunderte Male von ihnen gestellt worden – und so einfach sie ist, so bestechend erscheint sie. Die Schüler*innen recherchierten, suchten Kontakt zu renommierten Professoren aus den Bereichen Erziehungswissenschaften und Soziologie und fanden tatsächlich keine Erhebungen in diesem Bereich. Konnte es sein, dass in der sich selbst verstärkenden Logik der oben beschriebenen schulpolitischen Maßnahmen irgendwann der Blick verloren gegangen war auf das wirklich Wesentliche? Wenn tatsächlich unsere Kinder und Jugendliche das wichtigste „Gut“ sind, das wir haben, warum fragt dann niemand, wie glücklich sie sind, wie kreativ, wie demokratiefähig, wie tolerant, wie sozial handelnd, wie selbstkompetent, wie menschlich, wie wahrgenommen? Und konnte es sein, dass die gleichen Verantwortlichen, die all dies nicht fragten, sich gleichzeitig offensichtlich zutiefst erschüttert zeigten über Politikverdrossenheit, das Erstarken extremer Parteien, Populismus, die abnehmende Zahl ehrenamtlich arbeitender Jugendlicher, Vereinsamung in der Gesellschaft, soziale Kälte, Gewaltbereitschaft, Egomanie, die ansteigende Zahl von AD(H)S- Therapien, die hohe Zahl an Medikamentenmissbrauch oder die hohe Zahl an Essstörungen?

Wenn es sonst niemand fragt, fragen wir es halt selbst – also entwickelten die Schüler*innen einen Fragenkatalog zum Befinden von Schüler*innen in Schulen in NRW, stellten ihn online und warben für ein Mitmachen. Die Zwischen- Auswertung von NRW-weit 1250 Teilnehmenden (das sind - soweit wir wissen - übrigens mehr Teilnehmer*innen, als PISA beim letzten Durchlauf in NRW getestet hat) ergab dann ein erschreckendes Bild: Mehr als die Hälfte der bis dahin teilnehmenden Schüler*innen fühlt sich demnach von der schulischen Situation außergewöhnlich belastet. In den Klassen 10 bis 13, die kurz vor ihren Schulabschlüssen stehen, sind es sogar deutlich mehr als zwei Drittel. Mehr als sieben von zehn der älteren Schüler verbinden mit der Schule vorrangig Begriffe wie Stress, Überforderung oder Druck. Rund ein Drittel klagt über Angst oder das Gefühl der Ausweglosigkeit. Positive Gefühle wie Freude, Glück oder Ausgelassenheit verbinden unter zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Schule. Sogar zwei Drittel klagen über körperliche oder psychische Belastungen. An erster Stelle werden dabei Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Antriebslosigkeit oder Konzentrationsprobleme genannt. Deutlich mehr als die Hälfte hat nach eigenem Bekunden zu wenig Zeit für Freizeitbeschäftigungen oder ehrenamtliches Engagement – es scheint, als ob schulische Setzungen demokratisches Engagement oder persönliche „Reifung“, die ja auch ein gewisses Maß an Zeit und Raum benötigt, verhinderten. Diese bestürzenden Ergebnisse werden von zwei, ebenfalls von uns durchgeführten, Umfragen unterstützt: Sowohl die von uns befragten Institutionen der Kinder- und Jugendarbeit, der Sportjugendarbeit und der Musik- oder Kunstpädagogik als auch psychologische, psychiatrische und allgemeinmedizinische Beratungsstellen spiegeln tendenziell deckungsgleich unsere Ergebnisse[1]. Schulische Setzungen erschienen so betrachtet immer stärker als Teil gesellschaftlicher Probleme, nicht als Teil ihrer Lösung.

Während die Auswertung einer einzigen Lernstandserhebung in einer Klasse 8 in nur einem Fach den Umfang von ca. 130 DIN A4 Seiten beansprucht, weiß gleichzeitig offenbar niemand (jedenfalls nicht systemisch erhoben), wie viele Jugendliche sich in unseren Schulen momentan ritzen, Essstörungen haben, in norm- und wertschwachen Elternhäusern leben, kaum Verlässlichkeiten kennen, angenommen sind, hungrig zur Schule kommen, spielsüchtig oder einsam sind oder auch überbehütet. Die Schüler*innen fragten, ob denn niemand die Zusammenhänge zwischen diesen Dingen sieht, zwischen all diesen Gegebenheiten, den gesellschaftlichen Problemen in vielen Bereichen und den Ergebnissen der Leistungserhebungen. Sie wunderten sich, dass offensichtlich nicht klar ist, dass es Kindern in solchen schwierigen Befindlichkeiten nicht allein hilft, immer neue Leistungsstandards immer weitreichender festzulegen. Die offensichtliche Fokussierung auf immer mehr standardisierte Klausuren oder die in Teilen so gehypte Digitalisierung werden so gesehen gar nicht helfen, egal, wie sehr an dieser „Stellschraube“ gedreht wird – auch nicht die typischen Lösungsansätze eines „Projekttages“ zu einem gerade offenbar dringlichen Thema (Drogen/ Essstörungen/ Sucht/ Verhalten im Verkehr/ Aggression und Gewalt usw.). Die Schüler schlossen, dass es bei vielen der Problemfelder, die ganz automatisch und logisch in die Schule „schwappen“ um Grundprobleme, auch um Grundhaltungen geht und sie waren überzeugt, dass diese nur anzugehen sind, wenn wir anders miteinander LEBEN – auch und gerade in Schulen.

Ich halte inne – schon wieder so einfache, aber bestechende Gedanken. Wie wäre es also, wenn man ganz anders fragte? Wie wäre es, wenn man von ganz anderen Ausgangsfragen ausginge? Wie wäre es, wenn man an den Anfang aller Überlegungen eine gänzlich andere Überschrift stellte als bisher? Zum Beispiel „WOHLBEFINDEN“ ? Wie wäre es, wenn man das gesamte Schulsystem neu denken würde aus der übergeordneten Frage heraus, was alle sich in diesem System Befindlichen bräuchten, um sich wohl zu befinden? Wie wäre es, wenn man dann von dieser Überschrift immer differenzierter und widerspruchsfrei weiterdenken würde? Selbstverständlich wäre die Frage, wie die Setzungen sein müssten, um fachliche Leistungen erbringen zu können, die am Ende wirtschaftlich nützlich sind, sowohl für die Gesellschaft insgesamt als auch für das Individuum ein wichtiger Teil – aber eben auch nur einer! Bei diesen Gedanken und den Fragen, was alles noch notwendig wäre, wurde dann der Aspekt der Widerspruchsfreiheit im Gesamtsystem immer wichtiger, weil immer deutlicher wurde, wie weit wir derzeit von guten Lösungen entfernt sind: Grundsätzlich sind die derzeitigen systemischen Schulstrukturen im Wesentlichen noch kaiserlich- preußisch: Neben fast durchgängigen organisatorischen Top- down- Strukturen oberhalb der Einzelschulen haben wir ein dreigliedriges System, dessen bedeutsamer Grundpfeiler ein Berechtigungswesen ist: Mit dem Abitur kann man studieren, ohne im Wesentlichen nicht. Dieses System beinhaltet zwangsläufig eine Selektions- und Allokationsfunktion, die im Grundsatz von der Schulpolitik kaum hinterfragt wird. An dieses Grundkonstrukt hat man im Laufe der letzten 100 Jahre immer wieder Teilaspekte „dran gebaut“, die historische Entwicklungen verlangten. Wichtigste Beispiele sind in den vergangenen Jahren sicherlich die Inklusion und die Integration von Seiteneinsteigern. Wie unvereinbar die verschiedenen Konstrukte „Selektion vs. Inklusion/ Integration“ letztlich sind, zeigen jüngst zum Beispiel die gravierenden Probleme, die sich nach Abschluss der zweijährigen DAZ/DAF- Förderung von „Seiteneinsteiger“- Kindern an Gymnasien und Realschulen ergeben: Nach zweijährigen oft intensiven Integrationsbemühungen einzelner Lehrer*innen und Kollegien und Mitschüler*innen greift plötzlich der selektive Leistungsgedanke und ein Großteil dieser Kinder muss „abgeschult“ werden, weil sie dem „Bildungsanspruch“ der Gymnasien oder der Realschulen nicht genügen. Dies bedeutet zum Beispiel erneute Entwurzelung für viele der Kinder und für viele Kommunen und aufnehmende Schulen bedeutet es eine Überforderung wegen fehlender räumlicher, sächlicher und personeller Ressourcen, was z.B. oft zu einer Beschulung der Kinder in Container- „Raumsystemen“und völlig veränderten sozialen Bezügen führt.

Hier stehen wir nun und regen an, Schule ganz neu zu denken, konsequent, widerspruchsfrei, logisch, ganzheitlich menschlich … - die SV einer kleinen, ganz normalen Gesamtschule in Herne stellt das Große und Ganze sehr in Frage. Wir glauben, wir tun es zurecht und mit guten Gründen und der Zuspruch von Vielen, die uns ihr Ohr schenkten und ihre Gedanken und Herzen öffneten gibt uns Mut, ebenso wie der mittlerweile große Zuspruch von Demokratie- „Wettbewerben“ wie „Demokratisch Handeln“ oder auch ein gewisses mediales Echo. Also sind wir nun den letzten Schritt gegangen, um unser Anliegen dorthin zu bringen, wo letztlich schulische Bedingungen und Strukturen gesetzt werden: In den Landtag. Wir haben eine Petition gestellt, um zu ermöglichen, dass man unser Anliegen dort zu einem Thema macht und uns zu ermöglicht, unsere Gedanken und Forderungen Gremien vorzustellen, die mit schulpolitischen Entscheidungen betraut sind, um schließlich Änderungen im Schulsystem anzuregen. Nach einer ersten Anhörung im Petitionsausschuss wird es nun nach den Ferien eine weitere Anhörung in Düsseldorf geben, zu der je ein Vertreter jeder Landtagsfraktion des Schulausschusses des Landtags, hochrangige Vertreter aus dem Ministerium, Vertreter der Bezreg. Arnsberg, evtl. Vertreter des Herner Schulausschusses und die SV der EFG als Petenten eingeladen sein werden.

Wir werden dorthin gehen mit zwei Postkarten im Gepäck, die man uns auf unserem Weg irgendwann zugesteckt hat: „WAS AUCH IMMER GUT FÜR DEINE SEELE IST … MACH ES!“ und „GIB NIEMALS ETWAS AUF, AN DAS DU JEDEN TAG DENKEN MUSST“.

So sei es!


[1]Die Umfrage läuft immer noch weiter und ist erreichbar über die Homepage der EFG: www.erich-fried-gesamtschule.de. Direktlink: http://www.erich-fried-gesamtschule.de/pages/allgemein_sv-umfrage_1.php. Hier sind auch wesentliche Ergebnisse aller drei Erhebungen veröffentlicht.

Veröffentlicht am 11.06.19

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Wie sagte schon Bacon: „Wissen ist Macht!“
*Francis Bacon, 1561 - 1625, Philosoph & Jurist
 

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